Die Torheit der Regierenden

Wahnsinn bei Individuen ist selten, aber in Gruppen, Nationen und Epochen die Regel.

— Friedrich Nietzsche

Die Torheit der Regierenden

Amerika verrät sich selbst: Vietnam

Unwissenheit war bei dem Engagement Amerikas in Vietnam, an dem nacheinander fünf Präsidenten festhielten (Truman, Eisenhower, Kennedy, Johnson, Nixon), kein ausschlaggebender Faktor, obwohl sie später als Entschuldigung herhalten mußte. Unwissenheit in bezug auf das Land und seine Kultur mag es gegeben haben; die Einwände aber, die gegen eine Durchsetzung der amerikanischen Ziele sprachen, und die Hindernisse, die dem amerikanischen Vorgehen im Wege standen, waren sehr wohl bekannt. Alle Bedingungen und Gründe, die ein Gelingen ausschlossen, wurden in diesem oder jenem Stadium der dreißigjährigen amerikanischen Verwicklung erkannt oder vorausgesehen. Die Intervention war kein Unternehmen, das mit jedem Schritt tiefer in einen unvermuteten Sumpf geraten wäre. Zu keinem Zeitpunkt waren sich die Politiker über die Risiken, Widerstände und Fehlentwicklungen im unklaren. Washington war durchweg gut unterrichtet; verläßliche, vor Ort gewonnene Informationen flossen ständig in die Hauptstadt; besondere Untersuchungskommissionen wurden mehrfach entsandt, und an einer unabhängigen Berichterstattung zur Korrektur des professionellen Optimismus – sofern dieser die Oberhand gewann – fehlte es nie. Die Torheit bestand nicht darin, daß man ein Ziel in Unkenntnis der Hindernisse verfolgte, sondern darin, daß man an diesem Ziel festhielt, obwohl sich die Anzeichen dafür mehrten, daß es unerreichbar war und daß das, was man statt dessen erreichte, dem Interesse Amerikas nicht entsprach, sondern der amerikanischen Gesellschaft, dem Ansehen Amerikas in der Welt und seiner Machtstellung Schaden zufügte.

Hier soll die Frage gestellt werden: Warum verschlossen die Politiker die Augen vor dem, was offenkundig war, und vor den Konsequenzen, die sich daraus ergaben? Das ist das klassische System der Torheit: die Weigerung, aus dem Offenkundigen Schlüsse zu ziehen und das starre Festhalten an einem Vorgehen, das den eigenen Interessen zuwiderläuft.

Vielleicht läßt sich das ‚Warum‘ dieser Weigerung und dieser Erstarrung erhellen, indem wir die Geschichte der amerikanischen Politik in Vietnam nachzeichnen.

Am ihrem Beginn steht ein Meinungsumschwung bei Präsident Roosevelt, der im Laufe der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs von seinem bis dahin festen Entschluß abrückte, eine Wiederherstellung der französischen Kolonialherrschaft in Indochina nicht zuzulassen und ganz gewiß nicht zu unterstützen. Ausschlaggebend hierfür war die Auffassung, daß es angesichts des Drängens der Franzosen und zur Heilung ihres Nationalstolzes, der unter der deutschen Okkupation gelitten hatte, nötig sei, Frankreich als wichtigste westeuropäische Bastion gegen jene sowjetischen Expansionstendenzen zu stärken, die mit dem Herannahen des Sieges zur Hauptsorge Washingtons geworden war. Bis zu diesem Zeitpunkt war Roosevelts Abneigung gegen den Kolonialismus unerschütterlich gewesen, und er hegte die Absicht, sich für seine Beseitigung in Asien einzusetzen (was zu einer grundsätzlichen Kontroverse mit Großbritannien führte). Seiner Ansicht verkörperte die französische Mißregierung in Indochina den Kolonialismus in seiner schlimmsten Form.

 

Die Torheit der Regierenden

Barbara Tuchmann

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