Déjà Vu – Die Schlafwandler, Parallelen der heutigen Zeit zu der Phase vor dem Ersten Weltkrieg

Eine zynische, käufliche, demagogische Presse wird mit der Zeit ein Volk erzeugen, das genauso niederträchtig ist, wie sie selbst.

— Joseph Pulitzer

Déjà Vu – Die Schlafwandler, Parallelen der heutigen Zeit zu der Phase vor dem Ersten Weltkrieg

„Der Krieg…. Wir werden ihn begreifen, wenn wir ihn als das kritische Ereignis fassen, das er ist, als den Ausbruch aller tiefen Übel und Schwächen der abgelaufenen Epoche. Denn jede Deutung als eines Mißgeschickes, Mißverständnisses, schuldhaft gewollten Frevels versagt. Schuld ist freilich in die örtlich-zeitliche Bestimmung des Geschehens verstrickt, Schuld von allen Seiten. Doch wenn ein Erdteil sich jahrelang zerfleischt und so wenig wie am ersten Tage seine Gründe und Ziele kennt, so ist die geistige, sittliche und physische Erkrankung in den Tiefen seines organischen Aufbaus verwurzelt.

Die Krise, die wir erleben, ist die soziale Revolution. Der Grund, warum sie nicht im Innern der Nationen, sondern an ihren Grenzen entzündet hat, liegt in der Eigenart unserer Wirtschaft, die zur Weltwirtschaft erwachsen ist, und die in ihren Auswirkungen, Imperialismus und Nationalismus, die explosivsten ihrer Konflikte an den Rändern der Staatseinheiten gehäuft hat. Die schwerer entzündlichen Sprengstoffe im Innern der fester gefügten Staaten bleiben einstweilen unberührt, durch den Druck von den Grenzen her gebändigt.

Als unbändige Volksvermehrung vereint mit der Mechanisierung den individuellen Produktionsprozeß vernichtete, wurde die Erde eine gewaltige Produktionsstätte. Doch ihre nationale Spaltung blieb, und innerhalb der Nationen vertiefte sich die Spaltung der Stände. Wirtschaftlich betrachtet: eine große Fabrik, doch nicht einheitlich gebaut, sondern in den Wohnhäusern und Kammern eines Straßenvierecks untergebracht und unter den Hausparteien aufgeteilt. Die politische und soziale Entwicklung hielt mit der wirtschaftlichen nicht Schritt. Das ging so lange, als sich die Erzeugung in mäßigen Grenzen hielt und der Nationalismus sich langsam entwickelte.

Als aber die Staaten, nationalistisch erstarkt, sich gezwungen sahen, eine energische Wohlstandspolitik zu treiben, um ihren wachsenden Aufwand für Zivilisation, Rüstung und Machtentfaltung zu bestreiten, als die Mechanisierung den Staatskörper ergriffen und ihn zum bewußten Wirtschaftssubjekt und Konkurrenten gemacht hatte, gab es Zwiespalt zwischen den Parteien.

Jeder wollte so viel Arbeit wie möglich, denn Arbeit bringt Nutzen. Um zu arbeiten wollte er so viele Rohstoffe wie möglich. Er wollte sogar noch mehr Absatz, als zur Bezahlung der Rohstoffe nötig war, denn die heimische Produktion sollte alle anderen überflügeln, und der Absatz im eigenen Lande ließ sich nicht beliebig steigern. Was er nicht wollte, waren fremde Fabrikate im eigenen Lande, denn die beeinträchtigen den Absatz, die Preise und den Nutzen.

Der Kampf ging also um Rohstoff und Absatz, politisch ausgedrückt um Kolonien und Einflußgebiete. Die Welt war klein geworden, die unbesetzten Gebiete knapp und von allen umworben.

In sein letztes Stadium trat der Kampf, als die äußerste Schlußfolgerung gezogen wurde: Schutzzoll. Der hatte bei den meisten überdies politische Gründe: Man wollte die Intensivwirtschaft des Bodens erhalten, um im Kriege Selbstversorger zu sein, und um den herrschenden Stand der Grundbesitzer gegen Bodenentwertung zu schützen. Gleichzeitig begann der Kunstgriff, den man drüben dämpfen (dumping) nennt: Man warf dem Gegner die eigene Überschußware unter Selbstkosten über die Zollmauer und schädigte sein Schutzsystem.

Allmählich war auch der Nationalismus zum Gipfel gestiegen, denn die europäischen Unterschichten waren in die Historie getreten. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren sie anational gewesen, Geschichte war nur von den herrschenden Kasten gemacht worden; jetzt waren sie verbürgerlicht, zivilisiert und interessiert, und gaben dem Wirtschaftskampf die nationale Färbung. Durch Staatenbildung, Staatenerstrebung und Irredentismus mehrten die neuen Nationalgefühle, insbesondere die östlichen, den politischen Sprengstoff.

Im Innern der Staaten aber bestand die schroffe Scheidung der Stände. Das Proletariat, an der Tatsache des Produktionsprozesses interessiert, an seinem Verlauf nahezu unbeteiligt, war etwa in der Lage des Matrosen, dem das Schiff wichtig, die Ladung gleichgültig ist; es führte seinen Wirtschaftskampf, und zwang den Unternehmer, für jede Lohnerhöhungsich durch Zollerhöhung und gesteigerten Absatzdrang schadlos zu halten.

So verlief der imperial-nationalistische Wirtschaftskampf nach außen und innen vollkommen anarchisch. Wenigen war er in seinem logischen Zusammenhang bewußt; am wenigsten den Staatsmännern, die ihn führten. Klar war nur der Drang, den eigen-nationalen Einfluß zu heben, den fremden zu schädigen, den eigenen Absatz zu fördern, den fremden zurückzudrängen; so lückenhaft aber war der Zusammenhang, daß viele, unter ihnen Bismarck, am Werte des wichtigsten Kettengliedes, der Rohstoff-Kolonien zweifelten. Bekannt waren auch die Kampfmittel; es waren Bündnisse, Zollverträge, Rüstungen zu Land und See, Einsprüche gegen fremden Erwerb, Einmengung in Konflikte. Was als Endzustand vorschwebte, ist schwer zu sagen: allenfalls eine etwas bessere Erdeinteilung, als man sie gerade hatte; meist war man auf den gelegentlichen Vorteil aus.“

Walter Rathenau (liberaler, deutsch-jüdischer Politiker, Schriftsteller und Industrieller, 1867-1922, An Deutschlands Jugend)

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