Die Schrecken des Krieges und Wege zum Frieden

Papiergeld kehrt früher oder später zu seinem inneren Wert zurück – zu Null.

— Voltaire

Die Schrecken des Krieges und Wege zum Frieden

„Feinde, Menschen, Brüder, höret! Es ist genug.

Ihr und wir, wir alle sind mit Blindheit und Wahnsinn geschlagen. Im blinden Wahnsinn haben wir eine Welt zertrümmert.

Ihr und wir, wir haben nur einen Gedanken: leiden machen. Ihr und wir, wir jubeln, wenn Menschen brennend aus den Lüften stürzen, wenn Menschen in der See ersticken, wenn Menschen zerrissen und vergiftet sterben, wenn man sie in Gefangenschaft treibt. Wir lesen bei Mahlzeiten Dinge, von denen der tausendste Teil uns erstarren machen müßte. Sind wir noch Menschen?

Die vier göttlichen Elemente, Feuer und Luft, Wasser und Erde haben wir zu Werkzeugen des Todes gemacht, und das genügte nicht, Gift und Hunger holte man zu Hilfe. Aller menschliche Geist zählt und rechnet und grübelt: noch eine neue Streitmacht, noch eine neue Gewalt, noch eine neue Todesart.

Sieben Millionen sind tot. Sieben Millionen mal in fünfzehnhundert Tagen hat der rasend gemachte, gehetzte Tod ein blühendes, hilfloses Menschenherz zerschnitten, und mit jedem Schnitt hat er ein zweites liebendes Herz getroffen. Ungezählt sind die Krüppel, die Blinden, die Wahnsinnigen und Gebrochenen; sie ziehen über die Erde und zeugen wider uns und euch. Die Kreuze auf den Feldern strecken ihre Arme aus, die gemordeten Wälder recken ihre verstümmelten Äste, die aussätzige Kruste der Erde, die zertrommelten Städte, sie blicken auf aus erloschenen Augen und zeugen wider uns und euch.

In Erdlöchern, in Schlamm und Wasser hocken seit vier Jahren unsere Brüder, schützen ihre armen Leiber gegen giftige Dünste, Eisensplitter und Bajonette und trachten nach dem Leben der anderen. Dem Leib der Erde und der Völker ist die Fruchtbarkeit unterbunden. Bleiche Kinder wachsen auf, bleiche Mütter arbeiten in Fabriken.

Der Wohlstand ist gebrochen, die friedlichen Gewerbe sind tot, die See ist verödet. Was noch geschaffen und geschleppt wird, sind Waffen. In den Städten aber rast der Tanz um das Kalb. Inmitten der Entbehrung prassen Bereicherte. Die Versuchung wächst, das Gewissen betäubt sich, die Sitte wankt.

Um die Erde kreist eine Gewalt des Hasses, wie der Planet sie niemals trug. Noch immer wächst sie, angefacht durch Rache, Verleumdung, Angst und Verblendung.

Und doch ist die Welt nicht böse und nicht schlecht; sie ist wahnsinnig und blind. Jeder glaubt, der andere wolle ihn vernichten, und solange jeder das vom anderen glaubt, bleibt allen nichts übrig, als zu kämpfen. Wollte aber jemand auch nur einen Tag länger den Kampf fortsetzen, als Unabhängigkeit, Unberührbarkeit und Lebensraum seines Landes fordern, so wäre er für sich allein, vor Gott und Menschen schuldig am Jammer der Millionen, und es wäre ihm besser, daß er nie geboren wäre.

Feinde, Brüder, es ist Zeit! Es ist sehr spät, und jede Minute tötet, und doch ist noch Zeit. Denn noch tötet jeder von uns in gutem Glauben, im Glauben an den Vernichtungswillen des anderen. Es mag auch wirklich in jedem Lande einige Menschen geben, die vernichten wollen, Verblendete, die glauben, man müsse vom Tode leben, vom Schmerz Gebrochene, die nach Rache schreien, und, furchtbar zu sagen, vielleicht auch Gewinnsüchtige und Machtgierige, die nach göttlichem Recht nicht fragen. Es gibt auch solche, die meinen, das ewige Gesetz vertrage einen Aufschub, wie schlechte Wechsel, und solche, die wähnen, der Krieg sei ein Gottesurteil, der Gott des Geistes und der Wahrheit sitze in Wolken wie Zeug auf dem Berge Ida und warte, bis er seine Feinde in die Hände seiner Lieblinge geben könne, damit sie mit ihnen verfahren nach ihrer und seiner Willkür, und neues Gesetz und Recht schaffen. Vielleicht glauben das in abgeschwächter Form auch einige Staatsmänner, und denken, der Krieg werde mit der Zeit die Lage so ändern, daß sie doch noch in aller Stille einige Erwerbungen machen können; deshalb scheuen sie sich, rund heraus zu reden und zu sagen, was sie verlangen.

Aber ich schwöre euch, es gibt nicht ein einziges Volk auf der Erde, das die Vernichtung eines anderen Volkes will und wollen kann. Jedes Volk weiß in seinem inneren Bewußtsein, daß es nur einen Frieden geben kann und geben wird: der Friede, der in drei oder in zehn oder in zwanzig Jahren geschlossen werden wird, ist genau der Friede, der heute geschlossen werden kann und geschlossen werden soll. Nur versöhnt er nicht mehr lebendige Völker und gesunde Länder, sondern arme, verrohte Krüppel und Stätten der Verwüstung.

Prüft das, und wenn es wahr ist, so sprecht es aus. An dem Tage aber, an dem ihr, Völker der Erde, das Wort aussprecht, das einfache, klare, selbstverständliche Wort: Keinem Volke soll seine Unabhängigkeit und sein angestammter Boden geraubt, keinem sollen seine Lebensbedingungen verkürzt werden, an dem gleichen Tage ist der Krieg gebrochen und der Frieden in eurer Hand. Denn die Angst der Völker vor einander ist erloschen, es können weder Gruppen noch Staatsmänner sie neu entfachen, sie können auch nicht mehr durch vieldeutige, geschäftskluge Forderungen den Zweifel offen lassen, ob nicht durch, unter der Verhüllung von Sittensprüchen der Angriff auf das Leben des anderen lauert.

Welchen Weg dann die Staatsmänner wählen, um die leichte Aufgabe zu lösen, wie man zu Verhandlungen kommt, ist ganz gleichgültig.“

Walter Rathenau (liberaler, deutsch-jüdischer Politiker, Schriftsteller und Industrieller, 1867-1922, An Deutschlands Jugend, Juli 1918)

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