Die Macht des Sandes
Von Udo Rettberg
„Nur gut, dass ich mir diesen Seidenrock mit dem Etikett „Made in China“ schon vor Monaten gekauft habe“, lehnt sich die junge adrette Dame erleichtert zurück, als sie sich im Rahmen einer lebhaften Diskussion gedanklich mit den möglichen Folgen der „Ever-Given“-Strandung im Suez Canal auseinandersetzt. Doch ein nicht pünktlich in Europa eintreffender chinesischer Seidenrock wäre in der Tat nur ein kleiner – eher zu verschmerzender – Schaden. Denn die Havarie des Riesenschiffs hat die zuvor bereits von Corona zerrissene Weltwirtschaft Milliarden gekostet. Zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler gehen von einem Schaden in Höhe von rund 2 Mrd. US-Dollar aus.
Der nach unvorsichtigem Agieren der Schiffscrew auf Grund gelaufene rund 400 m lange Riesentanker hat die enormen Lieferketten im Handel zwischen Asien und China für mehrere Tage unterbrochen, weil nicht nur die „Ever Given“, sondern auch noch mehrere hundert Schiffe in nördlicher und südlicher Richtung zum Stillstand kamen. Grund für die Fehlfahrt war angeblich ein durch den Kanal fegender Sandsturm, der die Orientierung für das Schiffpersonal erschwert haben soll. „Tiefdenker“ sehen sich hier bestätigt, wenn sie immer wieder auf die Macht der Natur als Einflussfaktor auf die Weltwirtschaft hinweisen.
Doch nicht nur auf der Seite modebewusster Damen war zuletzt ein erleichtertes Aufatmen zu registrieren. Multinationale Konzerne in Asien und Europa fühlten sich nach der Meldung über Fortschritte bei der Freilegung der „Ever Given“ am Montag sichtlich erleichtert. Das ganz große Chaos ist gottlob ausgeblieben. Diese relativ positiven Nachrichten veranlassten Freunde in Hurghada, mich zu kontaktieren, um meine nächsten diesjährigen Urlaubspläne für Ägypten zu eruieren. Die Antwort bleibt offen; denn noch ist vieles von Covid-19 abhängig.
Bekanntlich ist der Suez Canal wichtiger Teil der so genannten maritimen Seidenstraße. Der bereits im Jahr 1869 eröffnete Wasserweg stellt die Grenze zwischen Afrika und Asien dar. Die Schifffahrtsrinne wurde dann im Jahr 2009 vertieft, weil die die Route nehmenden Schiffe immer größer wurden. Der Kanal weist aktuell eine Länge von etwa 193 km auf. Nicht nur für die ägyptische Volkswirtschaft hat der Meerwasserkanal eine enorme Bedeutung, sondern auch für die Weltwirtschaft. Für den Schifftransport von Asien nach Europa muss nicht die lange und demgemäß teure Strecke rund um den afrikanischen Kontinent genommen werden. Ägyptens Staatsbetrieb Suez Canal Authority nahm als Betreiber des Kanals im vergangenen Jahr mehr als 5 Mrd. $ ein. Das waren rund 300.000 $ pro Schiffsdurchfahrt. Ökonomen in Deutschland rechnen damit, dass 8 bis 9 % aller Exporte und Importe den Suez Canal durchlaufen.
Die Wasserstraße in Ägypten zwischen den Hafenstädten Port Said und Port Taufiq bei Sues, verbindet das Mittelmeer über die Landenge von Sues (Isthmus von Sues) mit dem Roten Meer und erspart der Seeschifffahrt den langen, beschwerlichen und gefährlichen Weg zwischen dem Nordatlantik und dem Indischem Ozean um den afrikanischen Kontinent herum. Sie ist die die kürzeste Transport-Verbindung zwischen Asien und Europa. Die Bedeutung des Kanals ist an konkreten Zahlen abzulesen. Im Jahr 2020 durchfuhren nach Berechnungen der Suezkanal-Behörde fast 19.000 Schiffe diesen Wasserweg. Durch die jüngste tagelange Blockade gingen dem Kanalbetreiber „Suez Canal Authority“ zuletzt Einnahmen von rund 13 bis 14 Millionen US-Dollar pro Tag verloren.
Wichtigster in der Öffentlichkeit wahrgenommener ökonomischer und finanzieller Ausdruck der Havarie waren die Schwankungen des Rohölpreises; denn der zuvor in Richtung 60 $ / Barrel leicht nach unten tendierende sehr volatile Rohölpreis schoss innerhalb weniger Stunden nach Bekanntwerden der „Schieflage“ im Kanal auf mehr als 66 $ / Barrel in die Höhe. Öl sackte dann nach den Hoffnungen auf eine Lage-Entspannung am Montag allerdings wieder auf 60 $ ab. Bekanntlich gelten die Energiepreise unter Führung von Rohöl auch im Zeitalter der Elektromobilität noch immer als ein sehr verlässlicher Indikator sowohl für den Status quo als der Weltwirtschaft als auch für dessen Zukunft.
Länger ausbleibende Rohöl-Lieferungen hätten z.B. in Rotterdam für sehr viel Nervosität gesorgt. Jetzt scheint sich die Lage zu entspannen, obwohl noch immer nicht sicher ist, wann das Riesenschiff seine Reise fortsetzen kann und sich der Schiffs-Stau im Kanal auflösen wird. Unter den rund 450 festsitzenden Schiffen befanden sich auch zahlreiche Öltanker, die sich meist auf dem Weg nach Rotterdam befinden. Bekanntlich ist Rotterdam einer der größten Seehäfen der Welt und mit einem Tiefgang von 24 Meter größter Tiefwasserhafen in Europa.