George Orwell – Sozialismus und Feudalismus – Krieg als Mittel zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung

Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen.

— Loriot

George Orwell – Sozialismus und Feudalismus – Krieg als Mittel zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung

„Krieg bedeutet Frieden

Die Aufteilung der Welt in drei große Super-Staaten war ein Ereignis, das bereits vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vorauszusehen war und auch tatsächlich vorausgesehen wurde. Mit der Einverleibung Europas durch Rußland und des Britischen Empires durch die Vereinigten Staaten waren bereits zwei von den drei heute bestehenden Mächten in Erscheinung getreten. Die dritte, Ostasien, zeichnete sich erst nach einem weiteren Jahrzehnt verworrener Kämpfe als deutliche Einheit ab. Die Grenzen zwischen den drei Superstaaten sind an manchen Stellen willkürlich, an anderen schwanken sie je nach Kriegsglück, aber im allgemeinen folgen sie geographischen Gegeben­heiten. Eurasien umfaßt den gesamten nördlichen Teil der europäischen und asiatischen Landmasse von Portugal bis zur Bering-Straße. Ozeanien umfaßt die beiden Ame­rika, die Inseln im Atlantischen Ozean einschließlich der Britischen Inseln, Australien und den südlichen Teil von Afrika. Ostasien, kleiner als die beiden anderen und mit einer weniger festumrissenen Westgrenze, umfaßt China und die südlich davon gelegenen Länder, die Japanischen Inseln und einen großen, aber fluktuierenden Teil der Mandschurei, der Mongolei und Tibets.

In der einen oder anderen Gruppierung liegen diese drei Super-Staaten ständig miteinander im Krieg, wie sie sich auch während der letzten fünfundzwanzig Jahre dauernd bekämpften. Krieg ist jedoch nicht mehr der verzweifelte Vernichtungskampf wie in den Anfangsjahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Er ist ein Waffengang mit beschränkten Zielen zwischen Kämpfenden, die nicht die Macht besitzen, einander zu vernichten, keinen materiellen Kriegsgrund haben und durch keinen echten ideologischen Unterschied getrennt sind. Das will nicht besagen, daß die Kriegführung oder die vorherrschende Einstellung dazu weniger blutrünstig oder ritterlich geworden wäre. Im Gegenteil, die Kriegshysterie wütet ständig und allgemein in allen Ländern, und Untaten wie Notzucht, Plünderung, Kindermord, Verschleppung ganzer Bevölkerungsteile in die Sklaverei, dazu Repressalien gegen Gefangene, die sogar soweit gehen, sie bei lebendigem Leib zu sieden und zu verbrennen, werden als normal und, wenn sie von der eigenen Seite und nicht vom Feind begangen werden, als verdienstlich angesehen. Aber mit ihrem Leben ist nur eine sehr geringe Anzahl von Menschen, größtenteils hochgeschulte Spezialisten, unmittelbar in die Kriegs­handlungen verwickelt, und die durch sie verursachten Verluste an Gefallenen sind verhältnismäßig gering. Der Kampf, wenn überhaupt einer stattfindet, spielt sich an den undeutlich umrissenen Grenzen ab, deren Lage der Krieg nur eine dauernde Kürzung der Gebrauchsgüter und den gelegentlichen Einschlag einer Raketenbombe, der vielleicht ein paar Dutzend Menschen zum Opfer fallen. Der Krieg hat in der Tat sein Wesen völlig gewandelt. Genauer gesagt haben sich die Gründe, um derentwillen Krieg geführt wird, in der Rangordnung ihrer Wichtigkeit geändert. Beweggründe, die bereits in bescheidenen Ausmaßen bei den großen Kriegen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mitsprachen, sind jetzt an die erste Stelle gerückt und werden bewußt anerkannt und in Rechnung gestellt einfache Mann nur mutmaßen kann, oder im Bereich der Schwimmenden Festungen, die strategische Punkte der Seewege einnehmen. In den Zivilisationszentren bedeutet ­

Um das Wesen des gegenwärtigen Krieges zu verstehen – denn trotz der alle paar Jahre erfolgenden Umgruppie­rung handelt es sich immer um denselben Krieg –, muß man sich vor allem vergegenwärtigen, daß er unmöglich entschieden werden kann. Keiner der drei Superstaaten könnte, sogar unter Zusammenschluß der beiden anderen, endgültig unterworfen werden. Sie sind zu gleichmäßig stark und ihre natürlichen Verteidigungsmittel zu gewaltig. Eurasien ist durch seine riesigen Landflächen geschützt, Ozeanien durch die Ausdehnung des Atlantischen und des Pazifischen Ozeans, Ostasien durch die Gebärfreu­digkeit und den Fleiß seiner Bewohner. Zweitens gibt es in materieller Hinsicht nichts mehr, um das man kämpfen könnte. Mit Einführung der Autarkie, bei der Produktion und Verbrauch aufeinander abgestellt sind drei Mächte. In der Praxis beherrscht keine der Mächte jemals das gesamte strittige Gebiet. Teile davon wechseln verräterischen Einfall geglückte Inbesitznahme dieses oder jenes Gebietsteiles bestimmt den endlosen Wandel der Mächtegruppierung ist die Jagd nach Absatzmärkten, die eine Hauptursache früherer Kriege war, beendet, während der Wettstreit um Rohstoffe keine Existenzfrage mehr ist. Jedenfalls ist jeder der drei Super-Staaten so groß, daß er fast alle von ihm benötigten Materialien innerhalb seiner eigenen Grenzen finden kann. Soweit der Krieg einen unmittelbaren wirt­schaftlichen Zweck hat, ist es ein Krieg um Arbeitskräfte. Zwischen den Grenzen der Super-Staaten und nicht in dauerndem Besitz eines derselben liegt ein annähernd viereckiges Gebiet, dessen Ecken von Tanger, Brazzaville, Darwin und Hongkong gebildet werden und das etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Erde enthält. Um den Besitz dieser dichtbevölkerten Landstriche und den der nördlichen Eiszone geht der dauernde Kampf der dauernd den Besitzer, und die durch einen plötzlichen

Sämtliche strittigen Gebiete enthalten wertvolle Mine­ralschätze, und manche von ihnen erzeugen wichtige pflanzliche Produkte wie Gummi, der in klimatisch kälteren Landstrichen durch verhältnismäßig kostspielige Methoden synthetisch erzeugt werden muß. Aber vor allem enthalten sie ein unerschöpfliches Reservoir billiger Arbeitskräfte. Welche Macht Äquatorial-Afrika oder die Länder des mittleren Ostens oder Südindien oder den Indonesischen Archipel beherrscht, hat damit Hunderte von Millionen schlecht bezahlter und schwer arbeitender Kulis zu ihrer Verfügung. Die mehr oder weniger offen auf die Stellung von Sklaven herabgedrückten Bewohner dieser Gebiete gehen dauernd von dem Besitz des einen Eroberers in den des anderen über und werden ähnlich wie Kohlenbergwerke oder Ölquellen ausgebeutet, in dem Wettlauf, mehr Waffen zu produzieren, das vorhandene Gebiet zu vergrößern, über mehr Arbeitskräfte zu verfügen, und endlos so weiter. Man muß dabei im Auge behalten, daß der Kampf nie wirklich über die Randgebiete der umstrittenen Territorien hinausgeht.

Die Grenzen Eurasiens verlaufen schwankend zwischen dem Stromgebiet des Kongo und der Nordküste des Mittelmeers. Die Inseln des Indischen Ozeans werden ständig von Ozeanien oder von Ostasien erobert und zurückerobert. In der Mongolei ist die Trennungsli­nie zwischen Eurasien und Ostasien nie fest umrissen. Rund um den Pol erheben alle drei Mächte Anspruch auf riesige Gebiete, die faktisch weitgehend unbewohnt und unerforscht sind. Aber das politische Gleichgewicht der Kräfte bleibt stets so ziemlich das gleiche, und das Gebiet, welches das Kernland jedes Superstaates bildet, bleibt immer unangetastet. Überdies ist die Arbeitskraft der um den Äquator angesiedelten ausgebeuteten Völker für die Weltwirtschaft nicht wirklich nötig. Sie tragen nichts zum Weltgedeihen bei, denn ihre gesamte Produk­tion dient Kriegszwecken, und das Ziel, warum ein Krieg vom Zaun gebrochen wird, besteht unabänderlich darin, besser für den nächsten Krieg gerüstet zu sein. Durch ihre Arbeitsleistung ermöglichen die Sklavenbevölkerun­gen eine Intensivierung der dauernden Kriegsführung. Aber wären sie nicht vorhanden, so wäre die Struktur der Weltgesellschaftsordnung und das Verfahren, durch das sie sich erhält, nicht wesentlich anders.

Das Hauptziel der modernen Kriegführung (in Über­einstimmung mit den Prinzipien des Zwiedenkens wird dieses Ziel von den leitenden Köpfen der Inneren Partei gleichzeitig anerkannt und nicht anerkannt) besteht in dem Verbrauch der maschinellen Erzeugnisse, ohne den allgemeinen Lebensstandard zu heben. Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts war in der industriellen Gesellschaftsordnung das Problem immer latent, was man mit der Überproduktion von Verbrauchsgütern anfangen sollte. Gegenwärtig, da wenige Menschen auch nur genug zu essen haben, ist dieses Problem offensichtlich nicht dringlich und wäre es vielleicht auch ohne das Einschalten von künstlichen Vernichtungsprozessen nicht geworden. Die Welt von heute ist ein armseliger, hungerleidender, jämmerlicher Aufenthaltsort, verglichen mit der Welt von vor 1914, und das gilt noch in verstärktem Maße, wenn man sie mit der imaginären Zukunft vergleicht, die die Menschen jener Zeit erwarteten. Anfangs des zwanzig­sten Jahrhunderts gehörte die Vision einer zukünftigen unglaublich reichen, über Muße verfügenden, geordneten und tüchtigen Gesellschaftsordnung – einer schimmern­den antiseptischen Welt aus Glas, Stahl und schneeweißem Beton – zum Vorstellungsbild nahezu jedes gebildeten Menschen. Wissenschaft und Technik entwickelten sich mit Gesellschaftsordnung keinen Bestand haben konnte. Im ganzen genommen ist die Welt von heute primitiver, als sie es vor fünfzig Jahren war. Gewisse rückständige Gebiete machten zwar Fortschritte, und verschiedene, immer irgendwie mit Kriegführung oder Polizeibespitzelung zusammenhängende Verfahren entwickelten sich weiter, aber Experiment und Erfindung haben so gut wie aufgehört, und die Verheerungen des Atomkrieges der Jahre nach neunzehnhundertfünfzig wurden nie wieder ganz wettgemacht. Nichtsdestoweniger sind die der Maschine innewohnenden Gefahren noch immer vorhanden. Von dem Augenblick an, als die Maschine zum erstenmal in Erscheinung trat, war es für alle denkenden Menschen klar, daß die Notwendigkeit der Mühsal, und damit zum großen Teil auch die Ungleichheit der Menschen, erledigt waren. Wenn die Maschine wohlüberlegt mit diesem Ziel vor Augen in Dienst gestellt wurde, dann konnten Hunger, Überstunden, Schmutz. Elend, Unbildung und Und tatsächlich hob die Maschine, ohne für einen solchen Zweck eingesetzt zu werden, sondern durch eine Art wunderbarer Geschwindigkeit, und die Annahme schien natürlich, daß sie sich immer weiterentwickeln würden. Das war jedoch nicht der Fall, teils infolge der durch eine lange Reihe von Kriegen und Revolutionen verursachten Verarmung, teils weil wissenschaftlicher und technischer Fortschritt von einem durch Erfahrung gestützten Den­ken abhingen, das in einer diktatorisch kontrollierten ­Krankheit in ein paar Generationen überwunden werden. ­automatischen Prozeß – indem sie nämlich einen Überfluß produzierte, den zu verteilen sich manchmal nicht umgehen ließ – während eines Zeitraums von ungefähr fünfzig Jahren am Ende des neunzehnten und am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts den Lebensstandard des Durchschnittsmenschen sehr beträchtlich.

Aber es war auch klar, daß ein allgemein wachsender Wohlstand das Bestehen einer hierarchisch geordneten Gesellschaft bedrohte, ja tatsächlich in gewisser Weise ihre Auflösung bedeutete. In einer Welt, in der jedermann nur wenige Stunden arbeiten mußte, in der jeder genug zu essen hatte, in einem Haus mit Badezimmer und Kühlschrank wohnte, ein Auto oder sogar ein Flugzeug besaß, in einer solchen Welt wäre die augenfälligste und vielleicht wichtigste Form der Ungleichheit bereits ver­schwunden. Wurde dieser Wohlstand erst einmal Allge­meingut, so bedeutete er keine Vorzugsstellung mehr. Es war zweifellos möglich, sich eine Gesellschaftsordnung vorzustellen, in der Wohlstand im Sinne von persön­lichem Besitz und Luxusartikeln gleichmäßig verteilt war, während die Macht in den Händen einer kleinen privilegierten Schicht lag. Aber in der Praxis würde eine solche Gesellschaftsordnung nicht lange Bestand haben. Denn sobald alle gleicherweise Muße und Sicherheit genossen, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch die Armut abgestumpft war, sich heranbilden und selbständig denken lernen. Und war es erst einmal soweit, so würden sie früher oder später dahinterkommen, daß die privilegierte Minderheit keine Funktion hatte, und würden sie beseitigen. Auf lange Sicht war daher eine hierarchisch geordnete Gesellschaft nur auf einer Grundlage von Armut und Unbildung möglich.

Zu einer ackerbautreibenden Vergangenheit zurückzukehren, wie es einige Denker zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erträumten, war keine ausführbare Lösung. Sie stand im Widerspruch mit der fast auf der ganzen Welt gleichsam instinktiv gewordenen Mechanisierungstendenz, und außerdem war jedes industriell zurückgebliebene Land in militärischer Hinsicht hilflos und dazu verurteilt, direkt oder indirekt von seinen fortschrittlichen Rivalen beherrscht zu werden.

Auch war es keine befriedigende Lösung, die Massen dadurch in Armut zu erhalten, daß man die Herstellung von Gebrauchsgütern abdrosselte. Das war in weitgehen­dem Maße während der letzten Phase des Kapitalismus, ungefähr zwischen den Jahren 1920 und 1940, geschehen. In vielen Ländern ließ man die Wirtschaft zum Stillstand kommen, die Felder blieben unbebaut, veraltete Maschi­nen wurden nicht ergänzt, große Teile der Bevölkerung wurden der Arbeit entfremdet und durch staatliche Unterstützung gerade noch am Leben gehalten. Aber auch das brachte militärische Schwäche mit sich, und da die damit verbundenen Opfer offensichtlich unnötig waren, erhob sich unvermeidlich eine Opposition. Das Problem bestand darin, die Räder der Industrie sich weiter drehen zu lassen, ohne den wirklichen Wohlstand der Welt zu erhöhen. Verbrauchsgüter mußten zwar produziert, durften aber nicht unter die Leute gebracht werden. Und in der Praxis war der einzige Weg, dieses Ziel zu erreichen, eine immerwährende Kriegführung.

Die Hauptwirkung des Krieges ist die Zerstörung, nicht notwendigerweise von Menschenleben, sondern von Erzeugnissen menschlicher Arbeit. Der Krieg ist ein Mittel, um Materialien, die sonst dazu benützt werden könnten, die Massen zu bequem und damit auf lange Sicht zu intelligent zu machen, in Stücke zu sprengen, in die Stratosphäre zu verpulvern oder in die Tiefe des Meeres zu versenken. Sogar wenn nicht wirklich Kriegswaffen zerstört werden, so ist ihre Fabrikation doch ein bequemer Weg, Arbeitskraft zu verbrauchen, ohne etwas zu erzeugen, was konsumiert werden kann. In einer Schwimmenden Festung zum Beispiel steckte eine Arbeitsleistung, mit der man mehrere hundert Frachtschiffe bauen könnte. Am Schluß wird sie als überholt abgewrackt, ohne jemals jemandem wirklichen Nutzen gebracht zu haben, und mit einem weiteren riesigen Arbeitsaufwand wird eine neue Schwimmende Festung gebaut. Im Prinzip dienen die Kriegsanstrengungen dazu, jeden Überschuß, der viel­leicht nach Befriedigung der unerläßlichen Bedürfnisse der Bevölkerung verbleiben könnte, aufzuzehren. In der Praxis werden die Bedürfnisse der Bevölkerung immer unterschätzt, mit dem Ergebnis, daß eine chronische Verknappung der Hälfte aller lebenswichtigen Güter herrscht; aber das wird als Vorteil angesehen. Es ist gewollte Politik, sogar die privilegierten Gruppen am Rande der Not zu halten, denn ein allgemeiner Verknappungszustand hebt die Bedeutung von kleinen Privilegien hervor und des zwanzigsten Jahrhunderts gemessen, führt selbst ein Mitglied der Inneren Partei ein hartes, arbeitsreiches Leben. Dennoch sieht seine Welt durch die paar Vorzüge, deren er sich erfreut – seine große, gut eingerichtete Wohnung, den besseren Stoff seiner Anzüge, die bessere Qualität seines Essens, Trinkens und Tabaks, seine zwei oder drei Dienstboten, sein Privatauto oder Helikopter –, anders aus als die eines Mitglieds der Äußeren Partei, und die Mitglieder der Äußeren Partei genießen einen ähnlichen Vorteil im Vergleich mit den von uns als »die Proles« bezeichneten, unterdrückten Massen. Die soziale Atmosphäre gleicht der einer belagerten Stadt, in der der Besitz eines Stückes Pferdefleisch den Unterschied zwischen Reichtum und Armut bedeutet. Gleichzeitig läßt das Bewußtsein, im Kriegszustand und deshalb in Gefahr zu sein, es als die natürliche, unvermeidliche Bedingung für ein Weiterleben erscheinen, die gesamte Macht in die Hände einer kleinen vergrößert so den Unterschied zwischen einer Gruppe und einer anderen. An dem Lebensstandard zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gemessen, führt selbst ein Mitglied der Inneren Partei ein hartes, arbeitsreiches Leben. Dennoch sieht seine Welt durch die paar Vorzüge, deren er sich erfreut – seine große, gut eingerichtete Wohnung, den besseren Stoff seiner Anzüge, die bessere Qualität seines Essens, Trinkens und Tabaks, seine zwei oder drei Dienstboten, sein Privatauto oder Helikopter –, anders aus als die eines Mitglieds der Äußeren Partei, und die Mitglieder der Äußeren Partei genießen einen ähnlichen Vorteil im Vergleich mit den von uns als »die Proles« bezeichneten, unterdrückten Massen. Die soziale Atmosphäre gleicht der einer belagerten Stadt, in der der Besitz eines Stückes Pferdefleisch den Unterschied zwischen Reichtum und Armut bedeutet. Gleichzeitig läßt das Bewußtsein, im Kriegszustand und deshalb in Gefahr zu sein, es als die natürliche, unvermeidliche Bedingung für ein Weiterleben erscheinen, die gesamte Macht in die Hände einer kleinen Kaste zu legen.

Der Krieg erfüllt nicht nur, wie man sehen wird, das notwendige Zerstörungswerk, sondern erfüllt es auch in einer psychologisch annehmbaren Weise. Im Prinzip wäre es ganz einfach, die überschüssige Arbeit der Welt dadurch verpuffen zu lassen, daß man Tempel und Pyramiden baut, Löcher gräbt und sie wieder zuschüttet, oder sogar große Mengen von Gütern erzeugt und sie dann verbrennt. Aber damit wäre nur die wirtschaftliche, nicht aber die gefühlsmäßige Basis für eine hierarchische Gesellschaftsordnung geschaffen. Es geht hier nicht um die Moral der Massen, deren Einstellung unwichtig ist, solange sie fest bei der Arbeit gehalten werden, sondern um die Moral der Partei selbst. Sogar von dem einfachsten Parteimitglied wird erwartet, daß es in engen Grenzen fähig, fleißig, ja sogar klug ist, jedoch ist es ebenfalls unerläßlich, daß der Betreffende ein gläubiger und unwissender Fanatiker ist, dessen hauptsächliche Gefühlsregungen Angst, Haß, Speichelleckerei und wilder Triumph sind. Mit anderen Worten, es ist notwendig, daß er eine dem Kriegszustand entsprechende Mentalität besitzt. Es spielt keine Rolle, ob wirklich Krieg geführt wird, und da kein entscheidender Sieg möglich ist, kommt es nicht darauf an, ob der Krieg gut oder schlecht verläuft. Es ist weiter nichts nötig, als daß Kriegszustand herrscht. Die verstandesmäßige Zweiteilung, die die Partei von ihren Mitgliedern verlangt und die leichter in einer Kriegsatmosphäre zustande kommt, ist heute fast allgemein, aber je höher in den Rängen man hinaufkommt, desto deutlicher wird sie. Gerade in der Inneren Partei sind Kriegshysterie und Feindhaß am stärksten vertreten. In seiner Eigenschaft als Administrator muß ein Mitglied der Inneren Partei oft wissen, daß dieser oder jener Punkt der Kriegsmeldungen unwahr ist, und er mag sich häufig bewußt sein, daß der ganze Krieg Spiegelfechterei ist und entweder nicht stattfindet oder aus ganz anderen als den angeblichen Gründen ausgefochten wird: Aber dieses Wissen wird leicht durch die Anwendung des Zwiedenkens neutralisiert. Mittlerweile schwankt kein Inneres Parteimitglied einen Augenblick in seinem mystischen Glauben, daß der Krieg echt ist und mit einem Sieg enden muß, bei dem Ozeanien als der unbestrittene Beherrscher der ganzen Welt hervorgeht.

Alle Mitglieder der Inneren Partei glauben an diese kommende Eroberung wie an einen Glaubensartikel. Sie wird entweder dadurch erreicht, daß man langsam mehr und immer mehr Gebiete erobert und so eine erdrückende Machtüberlegenheit aufbaut, oder durch die Entdeckung einer neuen Waffe, gegen die es kein Abwehrmittel gibt. Die Suche nach neuen Waffen geht ununterbrochen weiter und ist eine der wenigen übriggebliebenen Tätigkeiten, in denen der Erfinder- oder Forschergeist sich Luft machen kann. In Ozeanien hat heutigen Tags die Wissenschaft im althergebrachten Sinne fast aufgehört zu existieren. In der Neusprache gibt es kein Wort für »Wissenschaft«. Die empirische Denkweise, auf der alle wissenschaftlichen Errungenschaften der Vergangenheit fußten, widerspricht den fundamentalsten Prinzipien von Engsoz. Und sogar ein technologischer Fortschritt wird nur erzielt, wenn seine Erzeugnisse in irgendeiner Weise zur Beschränkung der menschlichen Freiheit benützt werden können. In allen nutzbringenden Künsten steht die Welt entweder still oder macht einen Rückschritt. Die Äcker werden mit Pferdepflug bestellt, während Bücher maschinell geschrieben werden. Aber in lebenswichtigen Dingen – womit in Wirklichkeit Krieg und Polizeibespitzelung gemeint sind – wird die empirische Einstellung auch heute noch ermutigt oder wenigstens geduldet. Die beiden Ziele der Partei sind, die ganze Erdoberfläche zu erobern und ein für allemal die Partei anstrebt. Das eine ist, die Gedanken eines anderen Menschen zu entdecken, ohne daß er sich dagegen wehren kann. Und das andere besteht in der Auffindung eines Verfahrens zur Tötung von mehreren hundert Millionen Menschen in ein paar Sekunden ohne vorhergehende Warnung. Soweit es noch wissenschaftliche Forschung gibt, ist dies ihr Hauptgegenstand. Der heutige Wissenschaftler ist entweder eine Mischung von Psychologe und Inquisitor, der mit ungewöhnlicher Sorgfältigkeit die Bedeutung von Gesichtsausdrücken, Gebärden und Stimmschwankungen studiert und die zu wahrheitsgemäßen Aussagen zwingenden Wirkungen von Drogen, Schock-Therapie, Hypnose und körperlicher Folterung erprobt. Oder er ist ein Chemiker, Physiker oder Biologe, der sich nur mit solchen Fragen seines Spezialfaches beschäftigt, die auf die Vernichtung des Lebens Bezug haben. In den ausgedehnten Laboratorien des Friedensministeriums und den großen, in den brasilianischen Wäldern oder der australischen Wüste oder auf den abgelegenen Inseln der Antarktis verborgenen Versuchsstationen sind Gruppen von Fachleuten unermüdlich am Werk. Manche sind lediglich mit der Bewegungs-, Unterbringungs- und Verpflegungskunde zukünftiger Kriege beschäftigt. Andere dagegen erfinden Möglichkeit unabhängigen Denkens auszutilgen. Infol­gedessen gibt es zwei große Probleme, deren Lösung die ­­­größere und immer größere Raketengeschosse, Explosiv­stoffe von immer verheerenderer Wirkung und immer undurchdringlicherer Panzerung. Wieder andere suchen nach neuen und tödlicheren Gasen oder auflösbaren Giften, machendes Gegenmittel gibt. Andere bemühen sich, ein Fahrzeug zu konstruieren, das sich unter der Erde wie ein Unterseeboot unter Wasser fortbewegt, oder ein Flugzeug, das von seinem Stützpunkt so unabhängig ist wie ein Segelschiff. Andere erforschen sogar noch ferner liegende Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Sonnenstrahlen in Tausende von Kilometern im Raum entfernt aufgehängten Linsen zu sammeln, oder durch Anzapfen des glühenden Erdinneren künstliche Erdbeben und Flutwellen hervorzurufen.die in solchen Mengen produziert werden können, um oder nach Krankheitsbakterien, gegen die es kein immun machendes Gegenmittel gibt. Andere bemühen sich, ein Fahrzeug zu konstruieren, das sich unter der Erde wie ein Unterseeboot unter Wasser fortbewegt, oder ein Flugzeug, das von seinem Stützpunkt so unabhängig ist wie ein Segelschiff. Andere erforschen sogar noch ferner liegende Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Sonnenstrahlen in Tausende von Kilometern im Raum entfernt aufgehängten Linsen zu sammeln, oder durch Anzapfen des glühenden Erdinneren künstliche Erdbeben und Flutwellen hervorzurufen.

Aber keines dieser Projekte kommt jemals der Verwirklichung nahe, und keiner der drei Superstaaten erlangt jemals ein bedeutendes Übergewicht über die anderen. Noch bemerkenswerter ist, daß alle drei Mächte in der Atombombe bereits eine weit gewaltigere Waffe besitzen, als einer ihrer derzeitigen Versuche jemals hervorzubringen verspricht. Wenn auch die Partei gemäß ihrer Gewohnheit die Erfindung für sich in Anspruch nimmt, so traten die Atombomben bereits in den Jahren nach 1940 erstmalig in Erscheinung und wurden zum erstenmal in großem Umfang etwa zehn Jahre später angewendet. Zu der Zeit wurden einige hundert Bomben auf Industriezentren, hauptsächlich im europäischen Rußland, Westeuropa und Nordamerika abgeworfen. Die dadurch erzielte Wirkung war, daß die herrschenden Gruppen aller Länder zu der Überzeugung gelangten, ein paar Atombomben mehr würden das Ende jeder geordneten Gesellschaft und damit ihrer eigenen Macht bedeuten. Danach wurden, obwohl nie ein formelles Abkommen getroffen oder angedeutet wurde, keine Atombomben mehr abgeworfen. Alle drei Mächte fahren lediglich fort, Atombomben herzustellen und sie für die entscheidende Gelegenheit aufzuspeichern, von der sie alle glauben, daß sie früher oder später kommen wird. Und inzwischen ist die Kriegskunst dreißig oder vierzig Jahre so gut wie zum Stillstand gekommen. Helikopter werden mehr benützt als früher, Bombenflugzeuge wurden größtenteils durch selbstgesteuerte Geschosse ersetzt, und das leicht verwundbare bewegliche Schlachtschiff ist der nahezu unversenkbaren Schwimmenden Festung gewichen; aber sonst hat sich wenig weiterentwickelt. Der Tank, das Unterseeboot, das Torpedo, das Maschinengewehr, sogar immer im Gebrauch. Und ungeachtet der endlosen in der Presse und durch den Televisor gemeldeten Gemetzel fanden die verzweifelten Schlachten früherer Kriege, in denen oft sogar in ein paar Wochen Hunderttausende oder sogar Millionen von Menschen getötet wurden, nie eine Wiederholung.würden das Ende jeder geordneten Gesellschaft und damit ihrer eigenen Macht bedeuten. Danach wurden, obwohl nie ein formelles Abkommen getroffen oder angedeutet wurde, keine Atombomben mehr abgeworfen. Alle drei Mächte fahren lediglich fort, Atombomben herzustellen und sie für die entscheidende Gelegenheit aufzuspeichern, von der sie alle glauben, daß sie früher oder später kommen wird. Und inzwischen ist die Kriegskunst dreißig oder vierzig Jahre so gut wie zum Stillstand gekommen. Helikopter werden mehr benützt als früher, Bombenflugzeuge wurden größtenteils durch selbstgesteuerte Geschosse ersetzt, und das leicht verwundbare bewegliche Schlachtschiff ist der nahezu unversenkbaren Schwimmenden Festung gewichen; aber sonst hat sich wenig weiterentwickelt. Der Tank, das Unterseeboot, das Torpedo, das Maschinengewehr, sogar das gewöhnliche Gewehr und die Handgranate sind noch immer im Gebrauch. Und ungeachtet der endlosen in der Presse und durch den Televisor gemeldeten Gemetzel fanden die verzweifelten Schlachten früherer Kriege, in denen oft sogar in ein paar Wochen Hunderttausende oder sogar Millionen von Menschen getötet wurden, nie eine Wiederholung.

Keiner der drei Superstaaten unternimmt je eine Kriegshandlung, die das Gefahrenmoment einer ernsten Niederlage in sich schließt. Wenn eine große Kriegshand­lung unternommen wird, so handelt es sich gewöhnlich um einen Überraschungsangriff gegen einen Verbünde­ten. Die Strategie, die alle drei Mächte verfolgen oder zu verfolgen glauben, ist die gleiche. Sie zielt darauf ab, Inseln, die geographisch einen Bestandteil Europas bilden, erobern. Oder andererseits wäre es für Ozeanien Weichsel vorzuschieben. Das aber würde das von allen Seiten eingehaltene, wenn auch nie formulierte Prinzip die einstmals als Frankreich und Deutschland bekannten sich durch ein Zusammenwirken von Kampfhandlungen, Verhandeln und zeitlich wohlberechnetem Verrat einen Ring von Stützpunkten zu schaffen, der den einen oder anderen der rivalisierenden Staaten vollkommen einkreist, und dann mit diesem Rivalen einen Freundschaftspakt zu schließen und so viele Jahre friedliche Beziehungen mit ihm zu unterhalten, daß jeder Argwohn einschläft. Während dieser Zeit können mit Atombomben geladene Raketengeschosse an allen strategisch wichtigen Punkten gehortet werden; am Schluß werden sie alle gleichzeitig mit so verheerender Wirkung abgeschossen, daß eine Wiedervergeltung unmöglich gemacht ist. Dann ist es Zeit, mit der übriggebliebenen Weltmacht in Vorbereitung eines neuen Angriffs einen Freundschaftspakt zu schließen. Dieses Schema ist, wie kaum gesagt zu werden braucht, ein unmöglich zu verwirklichender Wunschtraum. Außerdem kommt es nie zu Kampfhandlungen, außer in den um den Äquator und den Pol gelegenen umstrittenen Gebieten: nie wird ein Einfall in feindliches Gebiet unternommen. Das erklärt die Tatsache, daß an manchen Stellen die Grenzen zwischen den Super-Staaten willkürlich gezogen sind. Eurasien zum Beispiel könnte leicht die Britischen ­möglich, seine Grenzen bis zum Rhein oder sogar bis zur der kulturellen Unantastbarkeit verletzen. Wenn Ozeanien abhängt, könnten sich verflüchtigen. Man hat deshalb auf allen Seiten erkannt, daß, so oft auch Persien oder Ägypten oder Java oder Ceylon den Besitzer wechseln als von Bomben überquert werden dürfen.Gebiete eroberte, würde es notwendig werden, entweder die Bewohner auszutilgen – eine praktisch sehr schwierig durchführbare Aufgabe – oder eine Bevölkerung von rund hundert Millionen Menschen zu assimilieren, die, was die technische Entwicklung anbetrifft, ungefähr auf der Stufe von Ozeanien stehen. Das Problem ist für alle drei Superstaaten das gleiche. Es ist für ihre Struktur unbedingt erforderlich, daß kein Kontakt mit Ausländern stattfindet, ausgenommen in beschränktem Maße mit Kriegsgefangenen und farbigen Sklaven. Sogar dem jeweiligen offiziellen Verbündeten wird immer mit dem schwärzesten Verdacht begegnet. Abgesehen von Kriegsgefangenen bekommt der Durchschnittsbürger von Ozeanien nie einen Bewohner Eurasiens oder Ostasiens zu Gesicht, und die Kenntnis fremder Sprachen ist ihm verboten. Wäre es ihm erlaubt, mit Ausländern in Berührung zu kommen, so würde er entdecken, daß sie ganz ähnliche Menschen sind wie er selber und daß das meiste, was man ihm von ihnen erzählt hat, erlogen ist. Die künstlichen Schranken der Welt, in der er lebt, würden fallen, und die Furcht, der Haß und die Selbstgerechtigkeit, von denen seine Moral abhängt, könnten sich verflüchtigen. Man hat deshalb auf allen Seiten erkannt, daß, so oft auch Persien oder Ägypten oder Java oder Ceylon den Besitzer wechseln mögen, die Hauptgrenzen doch nie von etwas anderem als von Bomben überquert werden dürfen.

Dem liegt eine nie laut ausgesprochene, aber stillschweigend erkannte und anerkannte Tatsache zugrunde: nämlich, daß die Lebensbedingungen in allen drei Superstaaten fast die Tatsache, daß keine Gefahr einer Eroberung besteht, genau die gleichen sind. In Ozeanien wird die herrschende Weltanschauung als Engsoz bezeichnet, in Eurasien heißt sie NeoBolschewismus, und in Ostasien wird sie durch ein chinesisches Wort ausgedrückt, das gewöhnlich mit Sterbekult übersetzt, vielleicht aber treffender mit Auslöschung des eigenen Ichs wiedergegeben wird. Der Bewohner Ozeaniens darf nichts von den Grundsätzen der beiden anderen Lebensanschauungen wissen, wird aber gelehrt, sie als barbarische Verstöße gegen Moral und gesunden Menschenverstand zu verabscheuen. In Wirklichkeit sind die drei Lebensanschauungen kaum voneinander unterscheidbar, und die gesellschaftlichen Einrichtungen, zu deren Stütze sie dienen, unterscheiden sich überhaupt in keiner Weise. Überall findet sich der gleiche pyramidenförmige Aufbau, die gleiche Verehrung eines halbgöttlichen Führers, die gleichen, durch und für dauernde Kriegführung vorgenommenen Sparmaßnahmen. Daraus folgt, daß die drei Superstaaten nicht nur einander nicht überwinden können, sondern auch keinen Vorteil davon hätten. Im Gegenteil, solange sie in gespanntem Verhältnis zueinander stehen, stützen sie sich gegenseitig wie drei aneinander gelehnte Getreidegarben. Und wie gewöhnlich, sind sich die herrschenden Gruppen aller drei Mächte dessen, was sie tun, gleichzeitig bewußt und nicht bewußt. Ihr Leben ist der Welteroberung gewidmet, sie wissen aber auch, daß es notwendig ist, daß der Krieg ewig und ohne Endsieg fortdauert. Inzwischen macht, die Tatsache, daß keine Gefahr einer Eroberung besteht, die Verleugnung der Wirklichkeit möglich, die eines der besonderen Merkmale von Engsoz und seinen rivalisierenden Denksystemen ist. Hier muß das bereits früher Gesagte wiederholt werden, wonach der Krieg dadurch, daß er zu einem Dauerzustand wurde, seinen Charakter grundlegend geändert hat.

In früheren Zeiten war ein Krieg fast seiner Definition nach schon etwas, das früher oder später zu einem Ende kam, gewöhnlich in Form eines unmißverkenntlichen Sieges oder einer ebensolchen Niederlage. Auch war in der Vergangenheit der Krieg eines der Hauptmittel, um die Verbindung der menschlichen Gesellschaften mit der gegebenen Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Alle Macht­haber in allen Zeitaltern haben versucht, ihren Anhängern ein falsches Weltbild einzuimpfen, aber sie konnten es sich nicht leisten, eine Illusion zu ermutigen, die dazu angetan war, die militärische Stärke zu beeinträchtigen. Solange eine Niederlage gleichbedeutend war mit Verlust der Unabhängigkeit oder ein anderes unerwünsch­tes Ergebnis im Gefolge hatte, mußte man ernstliche Vorkehrungen gegen eine Niederlage treffen. Greifbare Tatsachen konnten nicht außer acht gelassen werden. In Philosophie, Religion, Ethik und Politik mochten wohl zwei plus zwei gleich fünf sein, aber wenn es sich um die Konstruktion eines Gewehrs oder eines Flugzeugs handelte, dann mußte es gleich vier sein. Untüchtige Nationen wurden immer früher oder später überwunden, und der Kampf um die Leistungsfähigkeit erlaubte keine Illusionen. Außerdem mußte man, um leistungsfähig zu sein, aus der Vergangenheit lernen können, was bedeutet, daß man eine ziemlich genaue Vorstellung von dem haben mußte, was sich in der Vergangenheit zugetragen hatte. Zeitungen und Geschichtsbücher waren freilich immer gefärbt und einseitig, aber Fälschungen von der heute üblichen Art wären unmöglich gewesen. Der Krieg war eine sichere Bürgschaft für Vernunft, und was die herrschenden Klassen betrifft vielleicht das wichtigste aller Schutzmittel. Solange Kriege gewonnen oder verloren werden konnten, konnte keine Klasse ganz verantwortungslos sein.

Aber wenn der Krieg buchstäblich ein Dauerzustand wird, dann hört er auch auf, gefährlich zu sein. Wenn Krieg ein Dauerzustand ist, dann gibt es so etwas wie eine militärische Notwendigkeit nicht mehr. Technischer Fortschritt kann aufhören, und die offenkundigsten Tat­sachen können geleugnet oder außer acht gelassen werden. Wie wir gesehen haben, werden für Kriegszwecke zwar noch Forschungen angestellt, die man als wissenschaftlich bezeichnen könnte, aber in der Hauptsache handelt es sich dabei um Phantasiegespinste, und die Tatsache, daß sie kein Resultat zeitigen, ist unwichtig. Leistungsfähigkeit, sogar militärische Leistungsfähigkeit, ist nicht mehr notwendig. Nichts in Ozeanien ist leistungsfähig außer der Gedankenpolizei. Da jeder der drei Super-Staaten uneinnehmbar ist, stellt jeder von ihnen im Effekt eine Welt für sich dar, in der fast jede Gedankenverdrehung ungestraft begangen werden kann. Die Wirklichkeit macht sich nur durch den Druck der Alltagserfordernisse bemerkbar – die Notwendigkeit zu essen und zu trinken, zu wohnen und sich zu kleiden, es zu vermeiden, Gift zu schlucken oder aus einem Dachfenster hinauszusteigen, und dergleichen. Zwischen Leben und Tod und zwischen körperlichem Wohlbehagen und körperlichem Schmerz besteht wohl noch ein Unterschied, aber das ist auch alles. Abgeschnitten von der Berührung mit der Außenwelt und der Vergangenheit, gleicht der Bürger Ozeaniens einem Menschen im interplanetarischen Raum, der keinen Anhaltspunkt hat, in welcher Richtung oben oder unten ist. Die Machthaber eines solchen Staates sind so absolut, wie es die Pharaonen oder Caesaren nicht sein konnten. Sie müssen verhindern, daß ihre Anhänger in einer Zahl verhungern, die groß genug ist, um unbequem zu werden, und dafür Sorge tragen, daß sie auf dem gleichen Tiefstand militärischer Technik stehen bleiben wie ihre Rivalen. Sind aber erst einmal diese Minimalforderungen erfüllt, dann können sie der Wirklichkeit jede von ihnen gewünschte Gestalt geben.

Der Krieg ist demnach, wenn wir nach den Maßstäben früherer Kriege urteilen, lediglich ein Schwindel. Es ist das gleiche wie die Kämpfe zwischen gewissen Wiederkäuern, deren Hörner in einem solchen Winkel gewachsen sind, daß sie einander nicht verletzen können. Wenn er aber auch nur ein Scheingefecht ist, so ist er doch nicht zwecklos. Durch ihn wird der Überschuß von Gebrauchsgütern verbraucht, und er hilft die besondere geistige Atmosphäre aufrechtzuerhalten, die eine hierarchische Gesellschaftsordnung braucht. Der Krieg ist jetzt, wie man sehen wird, eine rein innenpolitische Angelegenheit. In der Vergangenheit kämpften die herrschenden Gruppen aller Länder, wenn sie auch ihr gemeinsames Interesse erkennen und deshalb die Zerstörungswirkung des Krieges beschränken mochten, doch eine gegen die andere, und immer brandschatzte der Sieger den Besiegten. Heutzutage kämpfen sie überhaupt nicht gegeneinander. Der Krieg wird von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Anhänger geführt, und das Kriegsziel ist nicht, Gebietseroberungen zu machen oder zu verhindern, sondern die Gesellschaftsstruktur intakt zu erhalten. Infolgedessen ist schon das Wort »Krieg« irreführend geworden. Es wäre vermutlich richtig zu sagen, der Krieg habe dadurch, daß er ein Dauerzustand wurde, aufgehört zu existieren. Der charakteristische Druck, den er zwischen dem späteren Steinzeitalter und dem anfänglichen zwanzigsten Jahrhundert auf die Menschen ausgeübt hat, ist verschwunden und wurde durch etwas ganz anderes ersetzt. Die Wirkung wäre die gleiche, wenn die drei Superstaaten, anstatt einander zu bekämpfen, übereinkämen, in dauerndem Friedenszustand zu leben, wobei jeder unangefochten innerhalb seiner eigenen Grenzen bleibt. Denn in diesem Falle wäre jeder eine in sich abgeschlossene Welt, für immer von dem hemmenden Einfluß einer von außen drohenden Gefahr befreit. Ein wirklich dauerhafter Friede wäre das gleiche wie dauernder Krieg. Das ist – wenn auch die große Mehrheit der Parteimitglieder es nur in einem seichteren Sinne versteht – der tiefere Sinn des Parteischlagwortes: Krieg bedeutet Frieden.“

George Orwell (1984, Seiten 272-294)

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