„Seit mehr als zwei Jahrtausenden hat man den Gegensatz zwischen Ost und West in Despotie und individueller Freiheit gesehen.
Das Christentum, das selbst aus dem Osten kam, aber nur im Westen dauernd wirkte, hatte die Freiheit verallgemeinert. Das dünkte dem westlichen Bürgertum gerade um die Zeit, als es die Weltherrschaft anzutreten schien, nicht genug; es machte den gigantischen Versuch, auch die Souveränität, die unbeschränkte Macht, zu verallgemeinern. Dieses Beginnen ist mißlungen, und sein Ende droht, die Scheidewand zwischen Orient und Okzident zu zerstören.
Die drei großen Ideenbewegungen Europas (Kreuzzüge, Reformation, Revolution) haben zu Resultaten geführt, die den Absichten ihrer Schöpfer diametral entgegengesetzt waren und sind.
Die Kreuzzüge sollten das Heilige Land dem Glauben gewinnen und die Einheit des Christentums dokumentieren; sie führten zum Fall von Konstantinopel und zur Loslösung der westlichen Nationen von der einheitlichen päpstlichen Oberhoheit.
Die Reformation focht unter der Devise der Glaubensfreiheit und sie endigte mit stärkster religiöser Diktatur; der Grundsatz ‚cuius regio, eius religio‘, die Aufzwingung des Glaubens durch den Landesherrn, ist der Kernpunkt des Westfälischen Friedens, der diese Epoche beschloß.
Ein Jahrhundert später eröffnete das französische Bürgertum den Kampf um die politische und ökonomische Souveränität, der nach vier Generationen zur doppelten Despotie führte.
Aus jeder der drei Bewegungen ging – in vollem Gegensatz zu ihrem Geiste – die Staatsorganisation gestärkt hervor.
Die Kreuzzugsepoche endigte mit Abschüttelung des Richters über den Königen, die Reformation beseitigte den Schiedsrichter über den Regierungen und führte zur staatlichen Herrschaft über das religiöse Leben; die Epoche der Französischen Revolution riß alle Schranken ein, die die Wirkungssphäre des Staates begrenzten.
Diese letzte Bewegung begann im Namen der Freiheit mit dem Sturm auf ein schwach besetztes Sondergefängnis, die Bastille, und endigte mit Konzentrationslagern als permanenten Einrichtungen für Millionen von Menschen; sie beseitigte im Namen der Gleichheit die Könige und führte zur Kluft zwischen einigen Menschen, die alle Rechte hatten, und einer in Wirklichkeit völlig rechtlosen Majorität – nie zuvor waren so viel von so wenigen und so vollständig abhängig; die Revolution rief dem kosmopolitischen Europa des 18. Jahrhunderts die Forderung der Brüderlichkeit zu und endigte im krassesten Nationalismus, in dem selbst den radikalsten und angeblich internationalen Ausläufern das stärkste Schimpfwort der ‚Kosmopolit ohne Vaterland‘ galt. Sie begann mit der Verheißung des Friedens, schuf aus ihrem innersten Grund heraus Nationalismus und Kommunismus und endigte im Krieg als Dauerzustand. Sie verhieß das allgemeine Glück – und nie war die Menschheit dem allgemeinen Unglück näher als am Ende der Epoche. Die Revolutionen des 18. Jahrhunderts waren ausgelöst worden durch Widerstand gegen Steuerforderungen: in Amerika wegen sehr geringfügiger Abgaben und in Frankreich wegen der drohenden Maßnahmen zur Beseitigung eines nach einem Überseekrieg nicht ungewöhnlich hohen Defizits. Am Ende der Epoche wurden Steuern von konfiskatorischem Charakter ohne nennenswerte Opposition ertragen.
Die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit richteten sich gegen den Staat: Sein Charakter als Zwangsorganisation und Kardinalgegner der Freiheit ist von alters bis zu Lenin unbestritten, und die Menschenrechte sollten das Individuum gegen den Staat schützen; als ewigen Widersacher der Gleichheit erkannten ihn im 18. Jahrhundert mehrere Denker verschiedenster Richtungen. Der Brüderlichkeit ist nichts feindlicher als die Konzentration der Gewalt in einer Hand. Und nun erhob sich unter Berufung auf die Prinzipien der Revolution und als deren Universalnachfolger der Staat zur höchsten Macht, die je eine menschliche Organisation erreicht hatte.
Vom Bürgertum war die Erhebung ausgegangen; aber schon der erste Napoleon stützte sich auf Bauern und Arbeiter, und die Koalition zwischen diesen beiden und den Diktatoren hat reiche Nachfolge gefunden. Während der ganzen Epoche stand das europäische Bürgertum ausnahmslos in der Defensive, und es ist der völligen Vernichtung näher als je zuvor.
Die Doktrin der Volkssouveränität war nicht neu, war im Altertum und Mittelalter schon bekannt. Ihr weltweiter Siegeszug ging aber auf den Kult des gemeinen Mannes zurück, der in der europäischen Oberschicht des 18. Jahrhunderts weit verbreitet war und sich unter verschiedenen Formen und Namen durch die ganze Epoche zog. Hier kamen zwei Fiktionen zusammen: die Möglichkeit einer Übernahme der Souveränität durch das gesamte Volk und die Theorie von der Güte des gewöhnlichen Menschen. Keine der beiden Funktionen hat der Realität standgehalten; aber sie gaben den Anhängern der Volkssouveränität den Anstrich moralischer Überlegenheit, gleichgültig, wofür sie sich einsetzten, und sie machten – zum ersten Mal im christlichen Europa – die Tyrannis populär.
Die Jakobiner und Napoleon I., die Pariser Kommunisten von 1848, Napoleon III. sowie die Bolschewiken, alle bauten ihre Herrschaft auf dieser Grundlage auf.“
Felix Somary