Der Präsident der Vereinigten Staaten ist der erste Mann der Erde. Ihm untersteht die Exekutive des reichsten und mächtigsten Landes, ihm sind alle militärischen und zivilen Funktionäre der Bundesregierung verantwortlich. Er ist oberster Kommandant und hat in der Frage von Kriegführung und Friedensschluß, wenn auch nicht allein, die wirkliche Entscheidung zu treffen. Er vergibt zahllose amtliche Stellen und dirigiert ein Budget, dessen Jahresziffer dem Vermögen eines europäischen Großreiches gleichkommt. Seitdem das Schicksal Westeuropas und Lateinamerikas von den Entschlüssen Washingtons abhängt, ist sein Einfluß weltweit geworden; nie bisher in der Geschichte der Menschheit ist so große Konzentration der Macht in einer Hand verzeichnet worden.
Der Mann, der zur Lösung dieser schier übermenschlichen Aufgaben designiert wird, ist zu seinem Beruf nicht erzogen worden. In einem Lande des ausgebildetsten Spezialistentums ist die wichtigste Position von einem Amateur besetzt. Zur wirklichen Ausübung des Amtes wären gründliche internationale politische Erfahrung, strategische Kenntnisse, hohes Wirtschafts- und Organisationstalent und Ideenfülle unerläßlich. Einen Mann, der diese Qualitäten vereinigt, haben die Vereinigten Staaten noch nicht hervorgebracht. Von den bisherigen Präsidenten hat kaum einer auch nur eine einzige dieser Qualitäten besessen. Sie kamen in ihr Amt, weil sie am wenigsten Anstoß erregten oder zwischen den verschiedenen Fraktionen ihrer Partei zu vermitteln verstanden. Persönlichkeit ist kein Vorteil, sondern ein Hindernis, Erfolg, als Unternehmer und neuerdings auch als Akademiker, erregt Mißtrauen und ist unpopulär. Nach lokalen parteipolitischen Gesichtspunkten wird ein Kandidat zur Präsidentschaft ausgewählt, der sich womöglich durch nichts von der Masse der übrigen Bürger unterscheiden soll. Nach einer Blitzredefahrt durch den ganzen Kontinent zieht ein erschöpfter Mann in das Weiße Haus ein, wo ihn als unmittelbare Aufgabe die Führung der Partei, die Besetzung unzähliger Ämter, die Herstellung und Ausführung des Budgets, die Verwaltung eines Kontinents, die Organisation des Krieges und der Außenpolitik erwartet. Ihm fehlt die Zeit, die zahllosen Dinge zu studieren, die er nicht kennt, aber kennen sollte. Das Lesen wichtiger Bücher oder selbst wirkliches Studium grundlegender Memoranden ist ausgeschlossen. Die Frage der Vergütung für die Hilfe bei der letzten und der Vorsorge für die kommenden Kongreß- oder Präsidentenwahl nehmen einen zu breiten Raum ein. Wie könnte auch jemand Politik auf lange Sicht machen, der seine Stellung nur für vier und seiner Kongreßmehrheit – wenn überhaupt – gar nur für zwei Jahre sicher ist.
So sendet denn Amerika in Momenten historischer Wende, in denen geistige Superiorität unerläßlich wäre, zu entscheidenden Verhandlungen einen todmüden Mann, der mit dem Blick auf die augenblickliche Parteikonstellation improvisiert, wo er langfristig gestalten sollte, und der durch Mangel an Vorbereitung und Kompetenz die Nation um die Früchte teuer erkämpfter Siege bringt. Die erschreckende Wiederholung des gleichen Vorganges ist kein Zufall, sie ist Folge des Systems.
Wird der Träger dieser höchsten Gewalt nicht wiedergewählt, so verschwindet er in der Versenkung. Es fehlt in Amerika selbst der Kontakt, den eine Hauptstadt sonst zwischen denen schafft, die in der Karriere stehen, die ihre Karriere noch vor oder schon hinter sich haben. Die Geburtsorte später berühmter Franzosen, so hat man mit Recht gesagt, sind überall in Frankreich verstreut, ihr Sterbeort aber war meist Paris. Die Hauptstadt Amerikas dagegen ist ein Durchhaus. Hier haben selbst von den Präsidenten – mit alleiniger Ausnahme Wilsons – nur einige ihr Leben beschlossen, die von Mörderhand fielen. Washington ist eine Stadt der flüchtigen Schatten.
Die größte Gefahr für die Demokratie ist die Konzentration von Macht in einer Hand. Keine andere Demokratie, ja kaum eine frühere Despotie hat je so viel Macht vereinigt gesehen wir die USA. Herrschende Position in der Außenpolitik, starke militärische Organisation, Verfügung über eine riesenhaft anwachsende Beamtenschaft, Steuerhoheit, die bis zur Enteignung gehen kann, alle für eine Diktatur notwendigen Elemente sind vorhanden. Die Widerstände dagegen werden zusehends schwächer. Was nützt die Teilung der Gewalten dort, wo der Präsident durch das Patronagesystem die Mitglieder der Legislative und selbst der Justiz beeinflussen kann; verschwunden oder gedemütigt sind die alten Freiheitskämpfer, die Gentry und die Kaufmannschaft, und Arbeiter – ländliche und städtische – sind politischer Bestechung leicht zugänglich. Gewiß hatte bisher niemand die Absicht, auf das Ziel der Despotie zuzusteuern – aber gerade in dem Automatischen dieser Entwicklung liegt die eminente Gefahr. Es mag fraglich erscheinen, ob es irgendeinem Staatswesen frommt, so große Kompetenzen zu schaffen, denen wirklich nur ein selten erscheinender Genius gewachsen wäre. Die Demokratie dürfte unter allen Staatsformen am wenigsten solche Experimente machen: Die amerikanische Methode, ein Riesenamt zu schaffen und es mit einem Common man und kurzfristig zu besetzen, ist keine Lösung des Problems. Die daraus sich ergebende Unzulänglichkeit kann der Nation in kritischen Zeiten lebensgefährlich werden. Käme aber überraschenderweise wirklich ein Genius, so ließe er sich aus der Fülle der Allgewalt nach Ablauf der Amtsperiode nicht wieder in das Nichts zurückwerfen.
Felix Somary (1955)