„Noch 1796 konnte Schiller, Deutschlands größter Dramatiker und Dichter, schreiben, dass die Deutschen vergessen sollten, eine Nation zu werden, und sich stattdessen zu Menschen zu erziehen.
Erst in den Jahren nach 1789, als einige der Intellektuellen an die Macht kamen und sich ihre Überlegungen mit den Ansprüchen des Staates verbanden, änderte sich das Bild. Mit dem Verlassen der theoretischen Phase nahm auch der Nationalismus einen aggressiven, kriegerischen Charakter an; nirgendwo traf dies mehr zu als in Deutschland, das zuvor als das Land der ‚Dichter und Denker‘ gefeiert worden war und in dem die enge Bekanntschaft mit französischen Bajonetten, französischer Herrschaft und französischen Marodeuren ab 1806 zu einer heftigen Reaktion führte. Insbesondere der Sieg Napoleons über Preußen verwandelte einen Philosophen – Johann Gottlieb Fichte, der bis dahin hauptsächlich als harmloser Anhänger Kants bekannt war – in einen volksverhetzenden Redner von bemerkenswerter Kraft. In seinen Reden an die deutsche Nation (1807-8) erhob Fichte die antifranzösische Gesinnung fast in den Rang eines religiösen Prinzips; fortan bedeutete selbst die Unterrichtung der eigenen Tochter in der französischen Sprache, der gemeinsamen Sprache der Aufklärung, sie in die Prostitution zu treiben. Sein Werk markiert den Punkt, an dem das deutsche Nationalgefühl, das lange Zeit weltoffen und dem Pazifismus zugeneigt war, aufhörte, dies zu sein, und den militanten und chauvinistischen Charakter annahm, den es während eines Großteils der Zeit bis 1945 beibehalten sollte.“
Martin van Creveld (The Rise and Decline of the State)