„Mochte die Kirche als Vehikel der alternativen Legitimation zeitweilig noch so tief in Zustände interner Korruption versinken: Ihre Funktion als Übermittlerin eines Menschenrechts auf Nicht-Zugehörigkeit zu einem unterjochenden Kollektiv, es heiße Familie, Sippe oder Volk, konnte davon nicht wirklich berührt werden. Ja, auch wenn die Kirche selber, solange sie machthabende Ideologie war, sich der psychischen Versklavung vieler Generationen schuldig gemacht hatte: Ihren Gründungsdokumenten wohnte nichtsdestoweniger ein unauslöschlicher Impuls zur Freilassung aus Erbgefangenschaften inne. Die modernen Menschenrechte gründen vor allem in der vom Christentum behaupteten – und durch die Taufe bekräftigten – Freiheit des einzelnen vom Zwang des ersten Herkommens – gewiß auch im Bekenntnis der frühen Philosophie zur kosmopolitischen Freibeweglichkeit des Geistes und dessen Abstandnahme von Polis und Mutter Erde. In diesen teils produktiven, teils illusorischen Freiheitslehren hat die neuerdings wieder beobachtete ‚Sakralität der Person‘ in den Verfassungs-Präambeln und Werte-Tafeln der Moderne ihren ideengeschichtlichen Grund.“
Peter Sloterdijk (Die schrecklichen Kinder der Neuzeit)