„Eine Ideologie vermag nur dann die Herzen der Menschen für sich einzunehmen, wenn sie vorgibt, sie besitze den Schlüssel für die Antworten auf die großen Menschheitsfragen. Sie muss darum global, ja universell geltende Antworten anbieten. Diese müssen scheinbar absolut gelten, weil sie sonst unverbindlich wären. Und sie müssen die Sehnsucht nach Sinnsuche befriedigen. Die wenigsten Menschen haben nämlich verstanden, daß es keinen für alle vorgegebenen ‚Sinn des Lebens‘ gibt, sondern daß jedermann frei zur Sinnstiftung ist.
Nur universalistische Ideologien mit absolutem Geltungsanspruch und einem hinreichenden Sinnangebot knnen sich im Konkurrenzkamp der Ideologien behaupten. Solange sie oppositionell sind, treten sie als Befreiungsideologie auf und mutieren nach der Machtergreifung ihrer Verfechter zur Herrschaftsideologie. Der sozialontologische Imperativ lautet: Um sich sozial durchzusetzen, muß eine Ideologie jede geistig-moralische Konkurrenz bekämpfen. Ihre Handlungsmaximen müssen tendenziell weltweit dominieren.
Der geläufigen Taktik entspricht es, die eigene Welt-Anschauung zu verabsolutieren und so den Normgeltungsanspruch: ‚Alles hört auf mein Kommando!‘, auf die ganze Welt auszudehnen. Wer das unternimmt, ist Universalist. Indem er moralisch-ethische Normen aufstellt, verstärkt und absolutiert er seinen Geltungsanspruch. Dieser richtet sich jetzt universal an die ganze Welt. In seiner Norm verkörpert sich sein Machtanspruch gegenüber dem Rest der Welt: eine moralisierende Allmachtsphantasie.
Bei Religionen ist das der Regelfall: Jeder Ungehorsame werde sicher Ärger bekommen, wenn er sich nicht nach den Geboten ihres jeweiligen Gottes richtet. Derartige aus dem Jenseits begründete, also transzendierte Geltungsansprüche waren lange der Regelfall gesellschaftlicher Herrschaftslegitimation. Religion diente als Kitt des Gemeinschaftlichen schlechthin und spielte bei der Aufrechterhaltung aller sozialen Systeme eine ausschlaggebende Rolle.
Viel aktueller ist es aber, eine den eigenen Interessen folgende weltliche Moral zu universalisieren: In der gegenwärtigen planetarischen Konstellation gibt es gewichtige Kräfte und Mächte, die an der Universalisierung bestimmter Werte und somit an der Universalisierung des (ihres) Ethischen interessiert sind. Es spielt für das Funktionieren solcher universalistischer Morallehren keine ausschlaggebende Rolle, ob sie durch friedliche Missionare, durch Kanonenboote oder durch Handelsboykotte verbreitet werden.
Die historische Blaupause des moralischen Humanitarismus finden wir in der späten Antike. Damals ähnelte die Lage mental stark der modernen. Je stärker der Strom von Menschen, Waren und Informationen innerhalb eines Kulturraumes wurde, desto mehr Menschen wurden ihrer engeren Heimat entfremdet und entwurzelt. Großreiche und Einflußhemisphären brachten schon immer Menschenmassen verschiedener Herkunft und Glaubens unter ihre Kontrolle und verwandelten sie in lenkbare Massenmenschen.
Je umfassender eine Herrschaft sich geographisch ausdehnt, desto dringlicher wird ihr Bedürfnis nach einer universalen Herrschaftsideologie. Diese dient dazu, den Machtbereich zusammenzuhalten und heterogenen Unterworfenen ihre Stammesgötter madig zu machen. Im Innenleben eines Großreiches sind Tugenden wie Eigenständigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung nicht gefragt. Das Bedürfnis nach einer universalistischen Moral ist aber ein wechselseitiges: Wer als Entwurzelter fern der Heimat unter fremden Anschauungen lebt, muß sich trösten und eine Moral der Heimatlosen annehmen, eine überall brauchbare Nomadenethik der Bindungslosen, der Zerstreuten, der Entorteten. In dieser Lage befanden sich die Menschen im ersten historischen mulitethnischen Großreich: dem Alexanders und der folgenden Diadochen.
Arnold Gehlen hat den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der allumfassenden Kosmopolis des Hellenismus und der Ausbildung eines universalistischen Humanitarismus aufgewiesen. Der in Athen wohnende Zenon, ein schwerreicher Händler, fand die passende Ideologie für den moralisierenden Handelsstaat: eine universalistische Weltsicht, nach der alle Verwandtschaftsverbindungen und Stammespflichten vor der Tugend zurückzutreten hätten. Was diese Tugend im einzelnen forderte, erläuterten gern die Philosophen, und so hatte jeder seinen Vorteil. Hier entstand der Gedanke eines menschheitsumspannenden Naturrechts mit einheitlicher Moral.
Eine analoge Entwicklung hat sich während des 20. Jahrhunderts abgespielt: Wieder gewinnen in den Quasi-Vielvölkergebilden USA und Europa universalistische Vorstellungen an Boden, so daß Wirtschaftsnomaden, Kosmpoliten und Globetrotter sich überall heimisch fühlen dürfen. Der geistige Anspruch einer Menschheitsmoral hat aber auch immer eine polemische Spitze. Sie richtete sich zunächst gegen diejenigen Staaten, die sich der Zumutung widersetzten, sich die amerikanischen Ansichten von Moral, Demokratie und Freiheit zu eigen zu machen. Heute richten diese sich vor allem gegen Staaten Asiens mit gänzlich anderen Ideen vom Verhältnis von Freiheit, Bindung und Religion, aber auch gegen europäische Neubesinnung auf nationale Interessen und Besonderheiten.
Wie unterschiedlich die Moralen verschiedener Menschengruppen sein können, war dem Liberalen John Stuart Mill noch völlig klar:
“Wo es eine herrschende Klasse gibt, rührt ein großer Teil der moralischen Begriffe eines Landes von ihren Klasseninteressen, von ihrem Gefühl der Überlegenheit her. Das moralische Verhältnis zwischen Spartiaten und Heloten, zwischen Pflanzern und Negern, zwischen Fürsten und Untertanen, Adel und Bürgerschaft, Männern und Frauen ist zum größten Teil das Ergebnis dieser Klasseninteressen.“
John Stuart Mill (1860)
Heute reden uns die Vertreter der meist in den USA ansässigen globalen finanziellen Eliten, einer ‚Klasse‘ im Verhältnis Mills, ein, es gebe weltweit nur eine, nämlich die ihnen nützliche Moral. Ihre Interessen an freiem Kapitalfluß haben sie zur Staatsideologie der USA gemacht.
Ebenso wie das Individuum seinen Geltungsanspruch am wirksamsten vorträgt, indem es ihn in die äußere Form genereller Normen hüllt, pflegen auch Staaten – gleichsam wie Individuen – ihre Anliegen im Vokabular universaler Zielsetzungen und weltumspannender Sozialentwürfe zu formulieren. Wenn wir den Blick einmal von unseren deutschen Verhältnissen auf eine globale Ebene heben, sehen wir den Herkunftsraum des moralisierenden Humanitarismus. Dieser ist in den USA entstanden und hat sich über die Hochschulen und Massenmedien in die westeuropäischen Länder ausgebreitet.
Nicht zufällig entspricht all sein Gut und Böse der ökonomischen Interessenlage der in den USA herrschenden Finanzkreise. Deren Wohlstand ist auf stetiges ökonomisches Wachstum angelegt, und wenn sie im Inland nicht mehr wachsen können, müssen sie expandieren und den Rest der Welt ideologisch nach ihren Interessen umgestalten. Sie verwandeln die übrige Menschheit entweder in Kunden oder in Zulieferer. Als entscheidende Voraussetzung galt lange der global möglichst freie Fluß von Menschen, Informationen, Waren und Dienstleistungen. Am Ende verwandelt sich der Mensch zur austauschbaren Ware. Der neoliberale Anspruch, den Menschen als Ganzes zu einer Ware zu machen und ihn marktförmig zu gestalten und damit gleichsam einen neuen Menschen zu schaffen, kommt einem totalitären Anspruch gleich.
Auch der Neoliberalismus gibt sich moralisch: Das Glücksstreben der Menschen und ihre Eigennutz würden wie von unsichtbarer Hand Glück und gemeinsamen Wohlstand hervorbringen. Unmoralisch erscheint in diesem Lichte, wer sich dem freien Walten der Marktkräfte und des Kapitalverkehrs und seinen Regeln des modernen Nomadismus entgegenstellte.
Weil dies nicht unbedingt im Interesse aller anderen Staaten liegen muß, galt es, diese mental anpassungsbereit zu machen. Diese Bereitschaft suchen die USA traditionell durch verschiedenartige Methoden ideologischer Übernahme zu erzeugen. Sie treten im Namen der Moral und der Menschenrechte auf, was noch Niklas Luhmanns Beobachtung eine internationale Interventionsethik begründet. Die Menschenrechte sind aus seiner Sicht als Soziologe nichts als eine interessante Denkfigur, die auf eine Veränderung des Rechtsbewußtseins hindeute: Sie begünden den universalen Geltungsanspruch einer konkreten Weltmacht, unter Berufung auf das, was sie als Menschenrecht definiert, notfalls global militärisch einzugreifen. Damit folgt Luhmann Carl Schmitt: Dieser hatte auf das universalistisch- imperialistische, raumaufhebende Weltrecht hingewiesen, von dem aus unabsehbare humanitäre Interventionen völkerrechtlich zulässig sind. Universalistische, weltumfassende Allgemeinbegriffe seien im Völkerrecht die typischen Waffend es Interventionismus: eine imperialistische, unter humanitären Vorwänden in alles sich einmischende, sozusagen pan-interventionistische Weltideologie.
Sie predigt eine Menschheitsmoral, auf deren Fuß die Weltbank folgt. Jede Philisophie mit universalem Anspruch ist eine objektive Bedrohung für jedes Volk, das geistig eigenständig bleiben will. Im lebenswichtigen Punkt seines Glaubens, seiner Moral, seiner Werte gleichgeschaltet und fremdbestimmt, treibt das Volk der Auflösung entgegen: zur Gegenwehr nicht nur unfähig, sondern auch unwillig. Es weiß nicht mehr, daß es die Moral seiner eigenen Selbstbehauptung eingetauscht hat gegen die Moral einer Konkurrenz, für die ‚America first!‘ gilt und keiner nationaler Imperativ, der unserem Volk nützt.“
Klaus Kunze (Die mörderische Macht der Moralisten – im Würgegriff der Gutmenschen, Herausgeber: Die Deutschen Konservativen)