„Traditionen repräsentieren die Ideen, die Bedürfnisse und die Gefühle der Vergangenheit. Sie sind die Synthese der Rasse und wirken mit immenser Kraft auf uns ein. Die biologischen Wissenschaften haben sich verändert, seit die Embryologie den immensen Einfluss der Vergangenheit auf die Entwicklung der Lebewesen aufgezeigt hat; und die Geschichtswissenschaften werden sich nicht weniger verändern, wenn sich diese Auffassung erst einmal durchgesetzt hat. Noch ist sie nicht allgemein genug, und viele Staatsmänner sind noch nicht weiter fortgeschritten als die Theoretiker des letzten Jahrhunderts, die glaubten, eine Gesellschaft könne sich von ihrer Vergangenheit lösen und allein durch das Licht der Vernunft völlig neu gestaltet werden.
Ein Volk ist ein Organismus, der durch die Vergangenheit geschaffen wurde, und wie jeder andere Organismus kann er nur durch langsame Vererbung verändert werden. Es ist die Tradition, die die Menschen leitet, vor allem, wenn sie sich in einer Gruppe befinden. Die Änderungen, die sie in ihren Traditionen mit Leichtigkeit vornehmen können, beziehen sich, wie ich schon oft gesagt habe, nur auf Namen und äußere Formen.
Dieser Umstand ist nicht zu beklagen. Weder ein nationaler Genius noch eine Zivilisation wären ohne Traditionen möglich. Die beiden großen Anliegen des Menschen, seit es ihn gibt, bestehen folglich darin, ein Netz von Traditionen zu schaffen, das er anschließend zu zerstören versucht, wenn sich dessen positive Wirkung erschöpft hat. Zivilisation ist ohne Traditionen unmöglich, und Fortschritt ist ohne die Zerstörung dieser Traditionen unmöglich. Die Schwierigkeit, und das ist eine immense Schwierigkeit, besteht darin, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Stabilität und Variabilität zu finden. Wenn ein Volk zulässt, dass seine Bräuche zu fest verwurzelt sind, kann es sich nicht mehr verändern und wird, wie China, unfähig, sich zu verbessern. Gewaltsame Revolutionen sind in diesem Fall nutzlos, denn entweder werden die zerbrochenen Teile der Kette wieder zusammengefügt und die Vergangenheit nimmt ihr Reich unverändert wieder ein, oder die Teile bleiben auseinander und auf die Anarchie folgt bald die Dekadenz.
Das Ideal für ein Volk besteht also darin, die Institutionen der Vergangenheit zu bewahren und sie lediglich unmerklich und nach und nach zu verändern. Dieses Ideal ist schwer zu verwirklichen. Die Römer in der Antike und die Engländer in der Neuzeit sind fast die einzigen, die es verwirklicht haben.
Es sind gerade die Menschenmassen, die am zähesten an den traditionellen Vorstellungen festhalten und sich am hartnäckigsten gegen deren Veränderung wehren. Dies gilt insbesondere für die Kategorie der Menschenmengen, die die Kasten bilden. Ich habe bereits auf den konservativen Geist der Massen hingewiesen und gezeigt, dass die heftigsten Rebellionen lediglich in einem Wechsel der Worte und Begriffe enden. Am Ende des letzten Jahrhunderts hätte man angesichts der zerstörten Kirchen, der des Landes verwiesenen oder guillotinierten Priester denken können, dass die alten religiösen Ideen ihre Kraft verloren hätten, und doch waren kaum ein paar Jahre vergangen, als das abgeschaffte System des öffentlichen Gottesdienstes aufgrund der allgemeinen Forderungen wieder eingeführt werden musste.“
Gustave Le Bon