Die zwanzig Sozialgesetze der verkehrten Proportion von Felix Somary

Wenn die Massen im Chor singen, wird der größte Stumpfsinn zu einer feierlichen Hymne.

— Leopold Kohr (1909 – 1994)

Die zwanzig Sozialgesetze der verkehrten Proportion von Felix Somary

Das erste Gesetz: Je stärker die Gewalt konzentriert ist, desto geringer ist die Verantwortung.

(Je höher der Platz auf der hierarchischen Stufenleiter, desto unzulänglicher wird er ausgefüllt)

Das zweite Gesetz: Je größer (im öffentlichen Leben) die Schuld, desto geringer die Sühne.

(Die gleiche Strafe trifft den, der den Tod eines Menschen und den, der den Tod von Millionen zu verantworten hat)

Das dritte Gesetz: Je mehr Rechte jemandem zustehen, desto weniger werden sie wahrgenommen.

(wo allen alle Rechte zustehen, dort ist kein Recht wirklich behütet)

Das vierte Gesetz: Je mehr Funktionen ein Staat übernimmt, desto schwerer ist seine Verwaltung zu kontrollieren.

(auch die parlamentarische Kontrolle versagt dort, wor der Staat Politik und Wirtschaft allseitig dirigiert)

Das fünfte Gesetz: Je größer und vielseitiger der Staat, desto einflußloser das Volk.

(Der Bürger des schweizerischen Kantons Nidwalden kann in seiner Landsgemeinde zur Entscheidung beitragen – aber welchen Einfluß hat der einzelne auf die Geschicke Rußlands order selbst Amerikas?)

Das sechste Gesetz: Je stärker der Druck der Regierung, desto geringer der Widerstand der Massen.

(Stärkster Druck, der die Lebensgewohnheiten radikal ändert und alle trifft, wird als Schicksal empfunden, der Kampf dagegen als aussichtslos angesehen. Maxime für Staatsmänner: Wenn du drücken mußt, drücke zu Beginn und drücke hart. Wo der Druck zum politischen System gehört, dort wird er nach einiger Zeit als selbstverständlich angenommen)

Das siebente Gesetz: Je größer der Hunger, desto geringer der politische Widerstand

(der darbende Mensch denkt an Befriedigung seiner primären Bedürfnisse und ist ohne politisches Interesse; nicht der Hungrige, sondern der Satte macht Revolutionen)

Das achte Gesetz: Je größer die Zivilisation, desto geringer die Freiheit

(der Nomade ist freier als der Seßhafte)

Das neunte Gesetz: Je mehr Gesetz oder richterliche Entscheidungen, desot weniger Recht.

(Die zehn Gebote oder die Zwölftafelgesetze ware jedem bekannt und einleuchtend – aber wer vermöchte es, die Riesenkomplikationen moderner Gesetzgebung in seinem Kopf aufzunehmen? Unter diesen Umständen ist die Forderung, daß die Gesetze jedermann bekannt sein müssen, ein Akt größter Willkür)

Das zehnte Gesetz: Je besser die Verkehrsmittel, desto leichter können sie abgesperrt und desto weniger können sie benutzt werden, wenn man sie am meisten benötigt.

(Der Fußgänger und der Mann im Ruderboot sind die freiesten, der Pilot und der Mann im Dampfer die unfreiesten. Die Regierung kann ..Straßen und Tankstellen, Häfen und Flugplätze sperren, niemals aber dem Fußgänger alle Wälder und dem Ruderer alle Anlegestellen)

Das elfte Gesetz: Je besser der Nachrichtendienst, desto weniger dringen der Tyrannis ungünstige Meldungen an die Außenwelt.

(Post, Telegraph, Telephon, Radio und Television sind entweder schon im Frieden vom Staat organisiert oder so zentralisert, daß sie sofortiger Kontrolle unterliegen. In der Zeit primitivster Nachrichtenübermittlung drangen die Märtyrergeschichten weit hinaus – in der Gegenwart kommt aus den Konzentrationslagern kaum ein Ton an die Öffentlichkeit)

Das zwölfte Gesetz: Das Mitgefühl sinkt mit der Häufigkeit des Leides.

(Das Leiden eines einzelnen ergreift uns mächtig, das gleichzeitige Leiden vieler wirkt abstoßend… Wie deutlich kommt darin die Verlogenheit in der Überbetonung des Sozialen zum Ausdruck… Dieses Gesetz ermöglicht Krieg und Tyrannis. Würde unser Mitgefühl mit der Zahl und dem Leid der Opfer wachsen, so müßte der Widerstand so zwingend werden, daß er Krieg und Tyrannis unmöglich machen würde. Die Vielfalt des Leides stumpft ab, selbst gegen das eigene Schicksal, das als allgemeines erscheint. Ein furchtbares Gesetz mit furchtbaren Konsequenzen!)

Das dreizehnte Gesetz: Je mehr Tyrannen, desto weniger Opposition

(Ein Tyrann erregt Widerstand, mehrere erregen Nachahmung)

Das vierzehnte Gesetz: Je weniger eine Sache begründet ist, desto leidenschaftlicher wird sie verteidigt.

(Es gibt nicht Fanatiker der Mathematik oder Astronomie, wohl aber der Politik und der Theologie. Man stirbt nicht, sagt Renan, für Wahrheiten, sondern für Meinungen)

Das fünfzehnte Gesetz: Je weniger der Staat seine Bürger schützt, desto mehr verlangt er für diese Funktion.

(Als Britannien über die sieben Meere herrschte und die leichteste Bedrohung eines seiner Bürger Kriegsgefahr bedeutete, war das Land so gut wie steuerfrei; als es selbst fremde Angriffe aus eigener Kraft nicht mehr allein abwehren konnte, nahmen seine Steuern ein Höchstmaß an)

Das sechzehnte Gesetz: Je schwächer der Staat, desto höhere Forderungen werden an ihn gestellt.

(Wenig wurde von Washington verlangt, als das Bundesbudget trotz Freiheit von direkten Steuern mit Überschüssen abschloß; von dem Staat aber, der mit Schulden überlastet ist, verlangt eine immer stürmischere Bewegung die Lösung aller sozialen Fragen.

Siebzehntes Gesetz: Je mehr Geld ausgegeben wird, desto geringer ist der gesamte Geldwert.

(Die Sanierung ist am leichtesten, je tiefer der Geldwert gefallen ist)

Das achtzehnte Gesetz: Je mehr die Ökonomie Erhöhung des Zinses verlangt, desto mehr senkt ihn die Politik herunter.

Das neunzehnte Gesetz: Je schwächer die Staatsfinanzen, desto höher die Ausgaben.

(Nie hat man so luxuriöse Amtsgebäude wie in der Zeit vor dem Bankrotte; zu keiner Zeit wächst der Parasitismus so wild in die Höhe. In solchen Tagen beginnen die seltsamsten Geldquacklehren zu wuchern. Das einzige Heilmittel ist das restlose Auslaufen des Geldes, das dann zur Besinnung zwint)

Das zwanzigste Gesetz: Je größer Reichtum macht, desto geringer die Sättigung, desto stärker der Drang nach weiterer Vermehrung.

(Daraus resultiert Konzentration der Vermögen in der Privatwirtschaft und Konzentration der Gewalt im Völkerverkehr)

Felix Somary (1881-1956)

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